«Nicht weil es unmöglich ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es unmöglich », sagte der römische Philosoph Seneca. Über einen bis zu 1000 Grad Celsius heissen Glutteppich zu laufen, erscheint physikalisch betrachtet unmöglich zu sein. Und doch ist es möglich. Wir waren bei einem Feuerlauf dabei und haben den drei Meter langen, glühenden Kohleteppich mit blossen Füssen überquert. Unversehrt.
Es nieselte aus einem dunkel verhangenen Himmel, als wir an Samstagnachmittag im Dezember Richtung Sitzberg fuhren. Etwa ein schlechtes Omen? Hätte ich mich vor ein paar Tagen doch abmelden sollen? «Das ist eine Versuchung», hatte mir eine bohrende Stimme das bevorstehende Ereignis auszureden versucht. Vergeblich. Wir hatten den Sitzberg inzwischen erreicht, wurden freundlich willkommen geheissen und sassen nun mit klopfendem Herzen in der Runde mit 31 anderen Wagemutigen.
Altes Ritual
Wer nun aber glaubt, Feueraufen sei eine der neumodischen esoterischen Disziplinen, täuscht sich. Das Feuerlaufen hat Tradition und wird seit mehr als viertausend jahren praktiziert. «Wenn du durchs Feuer schreitest, die Flamme wird dich nicht verbrennen, du wirst dich nicht versengen», heisst es in Kapitel 43, Vers 2 des Alten Testamentes Jesaias. Wären wir in Griechenland, hätten wir uns vielleicht zu einem religiösen Heilungsritual versammelt. ln Singapore oder auf den Philippinen hingegen sässen wir inmitten von erlebnishungrigen Schaulustigen aus aller Welt. Im fernen Osten gehört das Feuerlaufen heute zu den touristi schen Attraktionen. Nicht so auf den Fiji-Inseln. Dort ist es, wie noch an vielen anderen Orten dieser Erde nach wie vor Bestandteil besonderer Rituale. Und bei uns? Welche Bedeutung hat das Feuerlaufen in unserem hochtechnisierten Westeuropa? Anna nimmt heute zum ersten Mal an einem Feuerlauf teil. Sie will für kommnende berufliche Projekte über die Glut laufen. Beat ist gekommen, weil für ihn Feuerlaufen ein Wunder ist, das ein Wunder bleibt. Selber glaube ich noch nicht so recht an das Wunder. Andererseits sind rund fünfzig Prozent der anwesenden Frauen und Männer aller Altersklassen nicht zum ersten Mal dabei. Warum kommen sie immer wieder? Für Urs ist das Ritual im Dezember ein Abschiednehmen von den vergangenen zwölf Monaten, um sich danach frei von Altlasten dem neuen jahr zuzuwenden. Wir wenden uns nun der ersten vorbereitenden Übung zu. Ein Feuerlauf vor dem Feuerlauf. Wir sollen uns mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen im Raum bewegen. Das ging ja noch. Aber wenn unsere Hände fündig werden, sollen wir uns gegenseitig umarmen. Natürlich ohne erotische Hintergedanken
Angst ist auch männlich
«Es geht um die Berührung», erklärte mein Sitznachbar Felix- Eigentlich eine simple Sache. Oder doch nicht? Nicht für alle, merke ich in den nächsten Minuten. Ab und zu greifen zitternde oder feuchte Hände nach den meinen. Selber werde ich immer ruhiger. Die Energie im Raum nimmt zu und bei der nächsten Übung - wir schauen uns gegenseitig minutenlang in die Augen - frage ich mich, was mir die blauen, braunen und graugrünen Augen wortlos mitteilen wollen. Etwas später aber meldet sich das komische Gefühl im Bauch zurück. Die bei den Leiter Otto Gerber und Gérard Moccetti zeigen uns ein Foto von verbrannten Füssen. «Das kann passieren, wenn jemand den Glutteppich ohne den nötigen Respekt überquert.» Aua. Ob ich mich doch nicht besser still und leise verdrücke? Noch ist Zeit. Denn eine Garantie gibt es nicht. Alle laufen auf eigene Verantwortung. «Wir können euch nur das Werkzeug dazu liefem», meinen die beiden Leiter. Wenig später merke ich, ich bin nicht alleine mit meiner Angst. Und sie ist nicht weiblich. «Mir schlottern die Beine», gesteht Urs freimütig ein. Na bravo, ein Mann, der zu seinen Gefühlen stehen darf. Das tun hier auch andere. Und das ist gut so, denn beim Feuerlaufen seien Gefühle wichtig, haben wir erfahren. Wer die Sache zu kopflastig angehen will, riskiert viel eher Brandblasen. Das wurde einem Mathematikstudenten bei seinem dritten Feuerlauf zum Verhängnis. An solches aber will ich lieber gar nicht denken. Wir stehen inzwischen draussen in der kalten Winternacht im Kreis um den zuvor sorgfältig aufgebauten Scheiterhaufen. Gérard und Otto zünden diesen nun an. Hoch lodem die Flammen in den finsteren Nachthimmel. Das Nieseln hat aufgehört. Ausser dem wilden Knistem der Flammen ist kein Laut zu hören. Die ganze Szene hat etwas Mystisches.
Einsamer Entscheid
Ob ich nun bald meinem eigenen Schatten begegne, wie es in Beschreibungen über das Feuerlaufen heisst? Wie er wohl aus sehen mag, dieser Schatten oder gibt es etwa mehrere davon? Ganz reell wird es gleich anschliessend. Wir kehren zurück in die warme Stube und packen unseren Proviant aus. Schweigend und bedächtig wird rundum gekaut. Der Augenblick der Wahrheit naht. In meinem Bauch ist es aber mittlerweile
wieder ruhig. Entweder laufe ich oder ich laufe nicht, sage ich mir. Zum Laufen angehalten wird niemand. «Entscheiden wirst du ganz alleine im Moment, wenn du vor dem Glutteppich stehst», hatte Otto Gerber betont. Das tue ich wenig später auch. Ich laufe, Hand in Hand mit einem «Wiederholungstäter». Am Ende des drei Meter langen feurigen Teppichs blicke ich ungläubig zurück. Bin ich da nun wirklich hinübergeaufen? Ich bin und laufe gleich noch einmal. Es fühlte sich an wie lauwarme Watte. Angenehm und weich. Es hätte aber auch anders sein können. «Wir müssen warten, bis sich der Feuerdrache beruhigt hat», haben uns Otto und Gérard erklärt, nachdem das Feuer zusammengefallen war. Noch züngelten da und dort kleine und mittlere Flammen empor und alles machte einen unruhigen Eindruck. Das änderte sich nach dem Ausrechen der Glut. Wo es vorher noch unkontrolliert gelodert hatte, glühte es nur noch. Mit rund 700 bis 1000 Grad Celcius notabene (je nach Windstärke). Daran dachte ich aber in jenem Moment nicht mehr. Die «Stunde der Wahrheit» war gekommen.
Muss alles erklärbar sein?
Als ich am anderen Morgen zuhause aufwachte, dachte ich als erstes an den Feuerlauf. War ich nun wirklich über die heisse Glut gelaufen oder war alles nur ein Traum? Es ist doch gar nicht möglich, sagte der Kopf. Und doch wusste ich, ich bin gelaufen, auch wenn ich es so kurz nachher selber fast nicht mehr glauben konnte. Ein paar Stunden später aber hatte ich plötzlich das Gefühl, Ketten gesprengt zu haben. Und gleich zeitig spürte ich eine Ruhe, wie ich sie bisher nicht gekannt hatte. Ob ich nun den Ausstieg aus unserem polaren Denken schaffen werde? Es wäre schön wenn ich in Zukunft sowohl das eine wie das andere unvoreinge nommen akzeptieren könnte Die Suche nach Antworten hin gegen, warum es möglich ist, über einen glühenden Feuerteppich zu laufen, überlasse ich anderen. Wenig Sinn macht zum Beispiel auch die Erklärung der unterschiedlichen Aussentemperaturen oder die Empfehlung, die empfindlichen Stellen der Füsse nicht zu belasten. Und warum funktioniert es tatsächlich? Otto Gerber ist dieser Frage nachgegangen und hat vor Jahren an 166 Teilnehmende Fragebogen verteilt.
Magie ist nicht im Spiel
«Was hast du während des eigentlichen Feuerlaufes erlebt?», lautete eine der Fragen. Eine Teilnehmerin schrieb: «Kann ich nicht sagen - rauschartig.» Ähnlich antworteten viele andere. Auch mir ist es so ergangen. Offenbar sind hier wirklich Kräfte im Spiel, die weder wissenschaftlich noch gefühlsmässig erklärbar sind. Anderer Meinung waren die Kommentatoren in einer ZDF-Sendung, die 1987 ausgestrahlt worden ist. Zur Tatsache, dass eine Menge Fragen offen stehen, wurde gesagt: «Das sollte uns nicht davon abhalten, nachvollziebare Erklärungen zu suchen, statt immer gleich magische Kräfte zu vermuten». Von Magie und dergleichen war am Feuerlauf vom 19. Dezember 1998 nie die Rede. Hingegen spürten alle, die dabei waren, einen grossen Respekt vor Kräften, die wir Menschen nicht willentlich kontrollieren und noch weniger erklären können. Otto Gerber hat die Frage nach dem Warum aufgegeben. Nach vielen jahren des Feuerlaufens stellte er fest: «Es gibt an sich nichts zu beweisen. Rechthaben stützt das Ego und kostet Lebendigkeit.» Ich habe bei den Vorbereitungen zum Feuerlaufen erfahren, dass ich die Kraft, die in der Angst steckt, positiv nutzen kann. Ich muss mich diesem Gefühl nicht ausliefern, sondem kann es, wie Otto Gerber in seinem Büchlein zum Feuerlaufen schreibt, «unter den Arm nehmen und der Situation begegnen.» Von zentraler Bedeutung sind beim Feuerlaufen die Vorbereitung und dass alle Teilnehmenden frei entscheiden können, ob sie laufen wollen oder nicht. Und noch ein paar Zahlen zum «Risiko des Feuerlaufens». An vierzehn Läufen zwischen 1986 und 1991 haben sich laut einer Statistik von Otto Gerber und Gérard Moccetti von den insgesamt 166 Teilnehmenden nur deren zwei starke Verbrennungen zugezogen. An neun Läufen gab es nicht einmal Blasen. Todesfälle wie beim Bergsteigen, Fallschirm- oder Bungyspringen sind beim Feuerlaufen nicht möglich. Otto Gerber und Gérard Moccetti organisieren auch Feuerläufe für Kinder (an denen die Eltem ebenfalls teilnehmen können). Feuerlaufen ist keine Mutprobe, sondern eine Möglichkeit, zu erfahren, ich kann ganz alleine die richtige Entscheidung treffen.